Juli 2018 |
Mit dem Juli kam ein Sommer, wie er im Buche steht. Fast pausenlos
strahlte die Sonne vom Himmel. Die Tage waren heiss, aber die Abende
angenehm warm und lang. Auf unserer Fahrt die Somme
hinunter erlebten wir Augenblicke, welche das Zeug dazu gehabt hätten,
einen
frühen Impressionisten zu einem Meisterwerk zu inspirieren.
Das Problem der Beschaffung von neuen Fahrrädern erledigte sich fast von
selbst,
nachdem wir die nicht einfache Frage gelöst hatten, wie man mit
den Mitteln des öffentlichem Verkehrs an den Stadtrand kommt. Dort, am Autobahngürtel, liegen die
grossen Verkaufsgeschäfte, welche Fahrräder mit einem Preisschild
anbieten, die man auch mal ohne allzu grosses Bauchgrimmen auf dem
Schiff zurücklassen kann. Erst in solchen Situationen wird einem klar,
was für riesige Welten zwischen dem Angebot des öffentlichen Verkehrs in der
Schweiz und jenem in den Ländern darum herum liegen.
Dass diese Preisüberlegung nicht zu weit hergeholt war, zeigte sich bereits
in unserer dritten Nacht in Amiens. So gegen vier Uhr morgens
wurden wir durch ungewöhnliche Geräusche auf dem Schiff aufgeschreckt.
Sensibilisiert durch die Erfahrungen der letzten Tage stürzten wir auf
Deck, wo Hansruedi, in wohl etwas unpassendem Kostüm und klar underdressed, sich plötzlich
einem Mann gegenüber sah, der sich auf der Wasserseite unseres Schiffes
auf dem Gangway bewegte. Obschon recht harsch auf sein ungewöhnliches Tun
angesprochen, nahm dieser die Sache erstaunlich gelassen und setzte sich
zunächst einmal hin. Er mimte dabei einen Betrunkenen, stammelte etwas von
Familie und dass er sich wohl im Boot geirrt hätte. Da dies
offensichtlich nicht sehr
glaubwürdig erschien, wurde er mit Ausdrücken überhäuft, die wohl
niemand je in der Schule gelernt hatte. Als Matz den grossen
Lichtstrahler auf ihn richtete, wurde er sehr schnell beweglich, nahm
seine mindestens einen Meter lange Schneidzange an sich, sprang behende vom Schiff und rannte in rekordverdächtigem Tempo davon.
Sein Werkzeug liess keine Zweifel offen, was für Absichten ihn getrieben
hatten. Unsere neuen Fahrräder waren
aber zum Glück noch da.
Beinahe humoristisch wurde die Angelegenheit erst dann, als wir über
die Notrufnummer die Polizei benachrichtigen wollten. Zunächst mal
wurden wir mit unverbindlichem Musikgeklimper hingehalten, gerade so, als
hätten wir versucht, einen Telekom-Anbieter anzurufen. Als sich dann nach
Minuten endlich jemand meldete und von uns erfuhr, dass wir von
Amiens aus anriefen, verband er uns gleich wieder mit dem Musikprogramm.
Da
blieben wir mangels Alternative sprachlos. Nach langen weiteren Minuten
meldete sich endlich die lokale Polizei. Nur wenn man weiss, dass
wir direkt vor der einzigen Schleuse der Stadt festgemacht hatten, kann
man unsere Verwunderung verstehen, als die Polizei keine Ahnung hatte,
wo diese Schleuse sei. Um die Sache kurz zu machen, sei erwähnt, dass nach 45
Minuten zwei Männer zu Fuss aufkreuzten und nach unserer knappen
Schilderung des Vorfalls verkündeten, dass sie jetzt das Quartier nach
Verdächtigen absuchen wollten. Wir sollten doch bitte in der Zwischenzeit hier
auf sie warten. Als nach einer Stunde immer noch niemand zurückgekehrt
war, haben wir uns den offensichtlichen Tatsachen gefügt und versucht,
trotz allem noch etwas Schlaf zu finden. Damit war die ganze Angelegenheit
erledigt. Daran änderte sich auch nichts, als sich am frühen Morgen
herausstellte, dass auf einer Strecke von mehreren Kilometern
flussabwärts sämtliche Bezugssäulen für Wasser und Strom aufgebrochen und die darin gespeicherten paar Euros geklaut worden waren. Die Polizei
hat in diesen Zeiten offensichtlich wichtigeres zu tun.
Die Kathedrale Notre Dame in Amiens ist ohne jeden Zweifel das Prunkstück der Stadt. 1220 war der Grundstein zu diesem erstaunlichen gotischen Sakralbau gelegt worden. Obschon die Bausteine hier beinahe in industrieller Weise behauen worden waren, erstreckte sich die ganze Bauzeit über mehrere Jahrhunderte. Der monumentale Bau wurde erst im 18. Jahrhundert in dem Umfang fertiggestellt, wie er heute zu besichtigen ist. Der Innenausbau benötigte dann noch weitere hundert Jahre bis zu seiner Vollendung. Sämtliche Abmessungen dieser Kirche sind derart rekordverdächtig, dass man die Notre Dame von Paris gleichzeitig zwei Mal in jener von Amiens aufstellen könnte.
Beim Eintritt durch das Hauptportal beeindruckt zuerst die Höhe des Kirchenschiffs, welche dieses zum höchsten Sakralbau des Landes macht. Die überwältigenden und äusserst reichhaltigen Steinhauerarbeiten an der Fassade und im Innenraum stellen nahezu den ganzen Inhalt der Bibel dar und waren zur Zeit ihrer Entstehung bunt bemalt. Welche handwerkliche Leistung! Bei kürzlichen Restaurierungsarbeiten konnten an einigen Stellen die ursprünglichen Farben ermittelt und wieder dargestellt werden. Bei so viel Gelegenheit zur Ablenkung dürfte es nur äusserst begabten Predigern vergönnt gewesen sein, die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer für längere Zeit für sich in Anspruch zu nehmen.
An der Aussenfassade sind die Details derart zahlreich, dass darob der
Gesamteindruck verloren zu gehen droht. Der Weg hinauf zum Nordturm
führt zunächst durch den Südturm und dann direkt unter der gewaltigen Rosette durch, die nicht nur mit ihrem
Ausmass, sondern ebenso durch ihren gepflegten Zustand beeindruckt.
Ein Erlebnis, dass wir uns natürlich nicht entgehen lassen konnten.
Angeblich nur Dank der persönlichen Fürsprache des Papstes beim deutschen
Heer blieb das Bauwerk während des zweiten Weltkrieges
von wesentlichen Schäden verschont. Der Rest der Stadt musste in dieser
Zeit sehr starke Zerstörungen hinnehmen.
Als Blickfang und zur Unterhaltung für die vielen Touristen wird die Kirche jeweils nach Einbruch der Dunkelheit von einer bunten Lightshow heimgesucht. Diese mag allenfalls technisch beeindruckend sein, ist aber künstlerisch belanglos und erweist dem einmaligen Sakralbau damit einen schlechten Dienst.
Daneben ist aber die Stadt sehr wohnlich und fast mediterran gemütlich. Das hat offenbar auch Jules Verne beeindruckt. Weil seine Frau aus Amiens stammte und er näher bei Paris leben wollte, zog die Familie 1869 von Le Crotoy an der Sommemündung hierher, wo er die letzten 20 Jahre seines Lebens verbrachte. Begnadet mit einer offenbar schrankenlosen Fantasie, schrieb er zahlreiche Romane, die man als Vorläufer der Science Fiction bezeichnen könnte. Durch sein Werk und dank der tatkräftigen Unterstützung seines Freundes und Jugend-Buch Verlegers Pierre-Jules Hetzel wurde er weltweit bekannt und entsprechend vermögend. Das ermöglichte ihm einen intensiven Umgang mit den Gelehrten seiner Zeit, deren Ideen er fleissig sammelte und in einem umfangreichen Zettelkasten festhielt. Diese Ideen, seine ausufernde Fantasie und weite Reisen durch die ganze Welt, meist in seinem eigenen Schiff, schufen in ihm die Traumwelt, aus der schliesslich sein umfangreiches, wissenschaftlich-romantisches Werk entstand.
Das Haus zeigt heute noch die originalen Räume, in denen er zusammen mit seiner Frau gelebt hatte, viele Briefe in schönster Handschrift, Bücher und Sammelstücke, sowie seinen berühmten Zettelkasten.
Eine auffällige Erinnerung an den bedeutenden Einwohner und Stadtrat von Amiens ist heute der Zirkus Jules Verne. Der war 1889 von Jules Verne selber eingeweiht worden und es ist kaum verwunderlich, dass er auch bei der Planung aktiv mitgeholfen hatte. Die Arena hat die bekanntesten Artisten und Clowns der Welt gesehen. Gleichzeitig beheimatet sie aber auch eine gesuchte Schule für angehende Zirkusleute. Frederico Fellinis Film 'Les Clowns' wurde weitgehend hier gedreht.
Die Altstadt ist gemütlich und hat nichts Grossstädtisches an sich.
Das Leben hier könnte eigentlich so schön sein! Trotzdem ist eine der berühmtesten Figuren der Stadt jene des weinenden Engels, der ein Grab im Chor der Kathedrale schmückt. Während des Grossen Krieges wurde dieses Bild zu Tausenden von Soldaten als Postkarte an die Angehörigen verschickt. Es muss ihnen verständlicherweise zum Heulen zu Mute gewesen sein.
Die weitere Fahrt auf der Somme wurde für uns zu einem besonderen Erlebnis. Wir glitten langsam und sanft durch ein weites Tal, wobei unser Fahrwasser meistens auf einer oder gar auf beiden Seiten von seeähnlichen grossen Wasserflächen begleitet wurde. Wie im Film zog eine sehr naturnahe und immer wechselnde Landschaft an uns vorbei, die dank dem überall reichlich vorhandenen Wasser üppig grün und voller Leben war. Auf der ganzen Strecke begegneten wir nur sehr wenigen Schiffen und hatten dieses Erlebnis darum fast für uns allein. Es mag am Anfang etwas befremdlich erscheinen, dass all diese Seen und Teiche privat und damit nicht öffentlich zugänglich sind. Doch wenn man sich den Betrieb vorstellt, der andernfalls hier mit Wasserscootern, Kanus, Standuppaddlern, Wind- und Drachensurfern oder gar Bunbos aufgeführt würde, erscheint das immer noch die bessere Variante zu sein.
Die Somme ist an einigen Stellen kanalisiert, an anderen verläuft die Fahrrinne im natürlichen Flusslauf. Der Kanal muss selbstverständlich durch Schleusen geregelt sein und zusätzlich sorgen einige bewegliche Brücken dafür, dass sich Autos und Schiffe nicht in die Quere kommen. Die Bedienung dieser Einrichtungen wird von einer Zentrale in Amiens gesteuert, bei der man sein Begehren telefonisch anmelden muss. Sie sorgt dann dafür, dass stets ein Verantwortlicher zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Das hat auch immer gut funktioniert und die Schleusentore standen bei unserer Anfahrt jeweils bereits weit offen. An dieser Stelle möchten wir uns darum bei allen Beamten ganz herzlich bedanken, denn sie beeindruckten uns während der ganzen Reise ohne jede Ausnahme durch ihre freundliche Dienstbeflissenheit. Die Fahrt auf dem Fluss war nicht immer ganz einfach, schlängelt er sich doch munter durchs Tal hinunter. Dabei macht er ab und zu recht enge Biegungen, die oft auch sehr unübersichtlich sind. Hinzu kommt die Strömung, die an der Innenseite der Kurven Sand und Geschiebe ablagert und die Fahrrinne entsprechend noch mehr einengt. Das alles erforderte eine sehr kontrollierte Fahrweise und es war zuweilen nicht ganz einfach, das lange Schiff in der Mitte der Fahrrinne zu halten. Wegen des anhaltend schönen Wetters war der Wasserstand recht niedrig und die Strömung darum nicht allzu stark. Allerdings kamen aus dem selben Grund Fels und Steine, die manchmal vom Ufer stark ins Fahrwasser hinein reichen, dem Schiff unfreundlich nahe. Wir bezeichnen es darum als Glücksfall, dass wir uns nicht schon am Anfang unseres Schifferlebens in diese Gegend aufgemacht hatten. Das Bisschen Erfahrung, das wir in dieser Zeit gesammelt haben, hat uns jetzt geholfen, diese Fahrt ganz besonders zu geniessen. Im Gegensatz zu längst vergangenen Jahren gibt es heute kaum mehr gewerbsmässigen Verkehr auf der Somme. Nur selten verirrt sich eine Freycinet-Péniche (39m Länge!) in diese Gegend. Wir zollen dem Kapitän, der solches unternimmt und schadlos durchsteht, unseren uneingeschränkten Respekt.
Auf unserem Weg von Amiens nach Abbeville übernachteten wir zunächst in Piquigny (Kirche und Schlossruine) und danach in Long, wo wir gleich unterhalb des prächtigen Schlosses gleichsam in fürstlicher Umgebung logierten.
Nach der Schleuse in Abbeville führt der
Canal maritime in schnurgerader Linie über 15km nach Saint-Valery
sur Somme. Weil dieser Teil der Somme Tidengewässer ist und und
wir wegen der beiden niedrigen Brücken im obersten Abschnitt nur bei Niedrigwasser hätten fahren können,
haben wir den Weg dahin mit dem Fahrrad zurückgelegt. Zudem war es unsicher, ob wir im Seehafen überhaupt einen Platz
zum Anlegen gefunden hätten. Zum
ersten Mal in diesem Monat war das Wetter nicht grossartig und wir waren
wohl etwas
zu wärmeverwöhnt. Nur so lässt sich erklären, warum wir hemdsärmelig, ohne jeden Kälte-
oder Regenschutz losgefahren sind. Die steife Seebrise hat dann das ihre
dazu beigetragen, dass wir während den nächsten zwei Tagen nur sehr
wenig Bier, dafür viel mehr Kaffee getrunken haben. Ein Grogg hätte
gelegentlich auch
gut getan.
Der Seehafen empfing uns in etwas unterkühlter, grauer Stimmung und
Platz hätte es auch noch gehabt.
Trotzdem war der Besuch der Baie de Somme ein echtes Erlebnis. Ursprünglich hätte der Kanal eigentlich einen Zugang für Seeschiffe bis nach Abbeville schaffen sollen. Wegen der starken Gezeiten und den damit verbundenen Sandverfrachtungen konnte die Fahrrinne aber nicht zuverlässig freigehalten werden. Die gute Idee wurde so sprichwörtlich immer wieder begraben. Die ganze Bucht ist heute Naturschutzgebiet und beherbergt viele seltene Pflanzen und Vogelarten.
Ein Leckerbissen war auch die Fahrt mit dem Chemin der Fer de la Baie de Somme. Eingeweiht worden war die Bahn 1887 und diente damals der Verbindung zwischen den Ortschaften an der Küste. Dank dem aufkommenden Tourismus konnte sich der kleine Zug zunächst noch gegen den stetig zunehmenden Autoverkehr behaupten, bis dann in den 1960er-Jahren der Betrieb zu unwirtschaftlich wurde. Einem Verein von Eisenbahnliebhabern und deren Fronarbeit ist es zu verdanken, dass der Betrieb 1971 mit anderen Zielsetzungen wieder aufgenommen werden konnte. Heute transportiert die heimelige Dampfbahn wieder 90'000 Besucher im Jahr und stellt eine der Hauptattraktionen der Gegend dar.
Natürlich liessen wir uns die Gelegenheit nicht entgehen und fuhren mit dem Dampfzug nach Le Crotoy. Dort hatte bekanntlich die Familie Jules Verne gewohnt, bevor sie nach Amiens gezogen ist. Heute war Markt und in jeder Beiz gab es Moules auf mindestens fünfzig verschiedene Arten.
Die Fahrt in den alten Waggons hin und zurück war ein Erlebnis und die Fahrräder wurden gratis mitgenommen.
Am Abend genossen wir am Sandstrand der Bucht noch ein Nachtessen bei
Sonnenuntergang und dann
einen gemütlichen Spaziergang durch Saint-Valery zurück ins Hotel.
Von ganz oben im Städtchen hat man eine weite Aussicht auf die Bucht.
Am nächsten Morgen befuhren wir die zweite Strecke der Bahn. Diesmal ging's mit einer Diesellok nach Cayeux.
Von dort strampelten wir dann mit dem Velo, der feuchten Witterung zum Trotz, entlang der Bucht und durch das Marschland zurück nach Abbeville. Dem Hinweis von Einheimischen folgend, fanden wir dort auch Salicornes (Salicornia) und Oreilles de Cochons de la baie de somme (aster maritime), beides salztolerante Pflanzen, die salzig und vorzüglich schmecken und sich deshalb in vielen Varianten, roh oder gekocht, zum Essen eignen. Auch zusammen mit Moules natürlich!
Die Rückfahrt mit dem Schiff auf der Somme, diesmal gegen die Strömung, erwies sich als bedeutend einfacher. Nur hatten in der Zwischenzeit offensichtlich die Ferien angefangen und somit waren mehr Boote unterwegs als zuvor. Holländer, die wie immer zu schnell fuhren und Franzosen, die wie immer freundlich waren. Diesmal übernachteten wir in Cocquerel und in Picquigny. (Das Schloss und die Kirche hatten wir schon bei der Hinfahrt besucht). Hier waren wir ausgerechnet am 14. Juli, dem 1. August der Franzosen. Wir waren etwas enttäuscht, dass nur eine einzige müde französische Fahne aus einem Fenster hing, aber während des ganzen Abends sich niemand auf der Strasse oder entlang dem Wasser aufhielt. Keine Musik, keine Marseillaise und keine Festlichkeiten. Zwei, drei billige Raketen gegen Mitternacht und das war er dann: der Nationalfeiertag der Franzosen. Wir hatten schon besseres gesehen. Auch nicht teuer, aber mit viel ausgelassener Fröhlichkeit.
Während der Weiterfahrt nach Amiens kamen wir bei Ailly sur Somme an einer Häuserreihe vorbei, die uns schon bei der Anreise aufgefallen war. Ein Bisschen Lesen in verschiedenen Prospekten und bei Google hat uns gezeigt, dass es sich dabei um die ehemalige Jutespinnerei von Carmichael handelte. Als Schotte mit der Textilverarbeitung gut vertraut, nutzte James Carmichael hier die Wasserkraft der Somme, die Anlegemöglichkeit für die grössten Schiffe seiner Zeit und - last but not least - das ausreichendeVorhandensein kostengünstiger Arbeitskräfte. Er gründete 1843 darum hier seine Fabrik. Schliesslich war er waschechter Schotte durch und durch. Jute, eine Textilfaser aus Indien, war damals auf dem besten Weg, den heimischen Flachs (Leinen) dank seiner höheren Produktivität abzulösen. Als beispielhafter Unternehmer sorgte der Chef aber nicht nur für seinen Gewinn, sondern auch für das Wohl seiner Angestellten. Er baute ihnen Häuser, Schulen und Spielplätze direkt neben seinen Produktionsanlagen. Und er war erfolgreich. Das Rohmaterial wurde übers Meer aus dem Golf von Bengalen angeliefert und mit Binnenschiffen die Somme hinaufgefahren.
Die Zahl der Angestellten stieg von 132 im Jahr 1851auf deren 495 im Laufe der folgenden zwanzig Jahre und weiter bis zur Jahrhundertwende gar auf 1700. Aber 1983 mussten die Carmichael Unternehmungen endgültig schliessen. Der Verbrauch von Jute war nach dem 2. Weltkrieg stark eingebrochen und in der neueren Zeit unbedeutend geworden. Bis dahin hatte das Unternehmen des Gründers und seiner Söhne das ganze Dorf und sein Leben massgeblich geprägt.
In den letzten Jahren wurden die Häuser restauriert und die neuen Bewohner versuchen, den alten Geist wieder aufleben zu lassen. Dass sich dabei der schottische Einfluss immer noch bemerkbar macht, stellt dem Gründer, viele Jahre nach seinem Tod, ein gutes Zeugnis aus.
Bei der Weiterfahrt zeigte sich in der Ferne dann bald die für uns schon fast vertraute Silhouette der Kathedrale von Amiens.
Am Quai der Ingenieurschule ESIEE mit ihrer typisch französischen Architektur legten wir für einen letzten Aufenthalt an. Vor uns lag die 'Carmen', ein Luxmotor im selben Alter wie die Mizar und mit fast identischem Aufbau. Mit ihrem Eigner und Captain David und seinen momentanen Gästen, verbrachten wir einen fröhlichen Abend auf unserer Terrasse und tauschten unsere Erfahrungen der letzten Tage. Zu besprechen gab es viel. Da Frankreich am selben Abend auch noch Fussballweltmeister wurde, zogen sich diese Gespräche länger als üblich hin. An Schlaf wäre, wegen des Lärms der hupenden Autos, ohnehin nicht zu denken gewesen.
Nun lag vor uns noch die obere Hälfte des Somme-Kanals. Wir liessen uns Zeit und genossen den weiten Ausblick auf die Landschaft: Getreidefelder so weit das Auge reicht und Wasserflächen, die einen die weitverbreitete Wasserknappheit dieses Sommers leicht hätten vergessen lassen können.
Die dritte Übernachtung ergab sich in Chipilly, einem weiteren Ort, der sehr stark im ersten Weltkrieges gelitten hatte. Heute ist er vor allem bekannt für sein Denkmal, das einen britischen Soldaten darstellt, der sein verletztes Pferd tröstet. Ein Zeichen dafür, dass es selbst unter widrigsten Umständen immer wieder Menschen gibt, die etwas Empathie aufbringen können.
Unsere letzte Nacht auf der Somme verbrachten wir in Cappy. Hier existierte noch bis vor wenigen Jahren eine Basis zur Vermietung von Ferienbooten. Dass die wirtschaftliche Bedeutung der oftmals geschähten Mietboote nicht unwesentlich ist, sieht man daran, dass nach dieser Geschäftsaufgabe auch die Bäckerei und der Spezereiladen im Dorf schliessen mussten. Das Dorf ist damit etwas ärmer geworden. Kurz vor Péronne erreichten wir wieder den Canal du Nord. Damit war unser Abenteuer auf der Somme bereits wieder Geschichte.
Wie wir an dieser Stelle im letzten Monat schon erklärt hatten, führt der zweite Teil des Canal du Nord vom Tal der Somme hinüber ins Tal der Oise. In seinen Scheitelstück passieren die Schiffe wiederum einen Tunnel, der hier allerdings etwa kürzer ist als jener im nördlichen Teil.
Auf unserem Weg wurde deutlich, dass der Sommer in den letzten Tagen gewaltig Fortschritt gemacht hatte. Ausser an den Veränderungen in der Landschaft, wurde das auch sichtbar an den Kolonnen grosser Traktoren, die, schwer beladene Anhänger ziehend, in Richtung eines der zahlreichen Getreidesilos fuhren. Wenn wir, mangels besserer Gelegenheit bei einem dieser Silos anlegen mussten, schliesslich haben sie ja alle einen gut ausgebauten Schiffsteg, wurde dass stets zu einem sehr staubigen Unterfangen. Während der Erntezeit ist das also nicht besonders zu empfehlen! Immerhin werden hier einige Ladungen noch per Schiff weitertransportiert, was bestimmt für die verbleibenden Berufsleute einen willkommenen Verdienst darstellt.
Kurz bevor der Canal du Nord bei Pont-l'Évêque die Oise erreicht, sieht man in der Ferne bereits die Türme der Kathedrale von Noyon.
Bei dieser Einmündung legten wir an, nahmen uns einen Tag Zeit, unsere
Vorräte aufzufüllen und die Stadt Noyon zu besuchen.
Auch wenn wir diesen Namen zuvor noch nie gehört hatten, ist
es eine der ältesten Städte an der Oise. Sie wurde im ersten Krieg zwar weitestgehend zerstört,
ist aber in der Zwischenkriegszeit nach dem alten Vorbild wieder aufgebaut worden.
Trotzdem haben einige
wichtige Gebäude die Katastrophe überlebt.
Eines davon ist das Hôtel de Ville, dessen barocke
Fassade eben in minutiöser Kleinarbeit gereinigt und restauriert wurde. Ohnehin
hatten wir den Eindruck, dass sich ein Bummel durch die Stadt lohne.
Allerdings mussten wir feststellen, dass auffällig viele Ladengeschäfte
geschlossen waren oder gar zum Verkauf standen. Der Grund dafür liess
sich leicht eruieren. Als wir am Nachmittag einige technische Artikel
kaufen wollten, war das nur im riesigen, neu erstellten Einkaufszentrum
zu machen, das etwa zwei Kilometer vor der Stadt liegt. Da bleibt eben nichts
mehr übrig für die kleinen Geschäfte in der Stadt. Eine weit verbreitete Entwicklung, für die
es unzählige weitere Beispiele gibt. Ein Zeichen mehr,
dass sich unsere Welt stetig verändert. Allerdings nicht immer zum Guten!
Einmal müssten wir alle anfangen zu denken und nicht um der
Bequemlichkeit willen jene agieren lassen, die nur die Maximierung des
eigenen Gewinnes im Auge haben.
Erstaunlich ist, dass sich die recht kleine Stadt damals eine derart grosse Kathedrale leisten konnte. Eine Frage, die sich dem Beobachter, der quer durchs Land reist, überall wieder stellt. Der Klerus hatte es also bereits in jenen Zeiten gut verstanden, sich die notwenige Bedeutung zu verschaffen, die auch für genügend Einnahmen sorgte. Und der enge Umgang mit den Mächtigen tat dann das Übrige. Diese Kathedrale hatte offenbar keinen derart einflussreichen Fürsprecher gefunden, wir jene von Amiens. Sie wurde bereits im ersten Weltkrieg stark beschädigt. Die Kapitel-Bibliothek, die direkt an die Kirche angebaut ist, steht auf hölzernen Säulen und wurde im 16. Jahrhundert erbaut. Heute beherbergt sie eine Bibliothek mit 3000 historischen Bänden.
Nur ein paar Schritte vom Eingang der Kathedrale entfernt liegt das Haus, das als 'Geburtshaus' des Reformators Calvin bezeichnet wird. Auf den Ruinen der historischen Stätte wurde nach 1918 im alten Stil das Haus nachgebaut, wo der Reformator der Franzosen zur Welt gekommen ist. Als Museum dokumentiert es heute sein Leben und Wirken.
Nach der Wegfahrt von Pont-l'Évêque drehten wir direkt nach links auf den Seitenkanal zur l'Oise, allerdings nur für eine kleine Strecke, bevor wir, nach rechts drehend, in den Canal de l'Oise à l'Aisne einbogen. Was wie eine Wortklauberei tönen mag, ist nichts anderes, als ein weiteres Beispiel für die Funktion vieler Kanäle in Frankreich, wie wir sie im letzten Monatsbericht am Beispiel des Canal du Nord erläutert haben. Hier führt der Kanal vom Tal der l'Oise in jenes der l'Aisne und auch er weist in seinem Scheitelstück einen Tunnel auf.
Der Kanal selber wirkt etwas altertümlich, führt aber durch eine grüne und oft bewaldete Landschaft. Dabei strecken die Bäume ihre Äste gelegentlich von beiden Seiten weit über den Kanalrand und man hat das Gefühl, auf einem Waldweg zu fahren. Unser erster Halt erfolgte bei der Schleuse von Guny.
Auf der ganzen Strecke erfolgt die Steuerung der Schleusen mit einer Fernbedienung durch die Schiffe selber. Nur war nach unserer ersten Übernachtung die Automatik der Schleuse bei Guny offensichtlich defekt und musste erst durch die Fachleute der VNF repariert werden. Ihre Anreise brauchte allerdings etwas Zeit. So ging der halbe Morgen vorbei. Ein sichtbarer Unterschied zu den bedienten Schleusen betrifft die alten Schleusenwärterhäuschen. Sie waren der Stolz des Schleusenwärters und er pflegte darum stets liebevoll Haus und Garten. Und genau so stolz war er auch auf seine ihm anvertraute Schleuse. Die Automatik benötigte ein etwas bescheideneres Häuschen und das alte Wärterhäuschen wurde nicht mehr gebraucht. Die meisten stehen darum heute leer, die Fenster sind zugemauert und das Haus verlottert zusehends. Dieses hier hat offensichtlich Glück gehabt und einen Mieter gefunden. Im wurde ein zweites Leben geschenkt.
Die Weiterfahrt erfolgte an einem echten Sommertag mit deutlich über 30° Hitze und führte uns immerhin durch sieben Schleusen. Wen wundert's, dass wir nach unserer Ankunft in Pargny erst einmal ein ausgiebiges Bad genossen. Und das direkt 'vor der Haustüre'. Das Wasser bot uns eine angenehme und verdiente Erfrischung. Der Kanal endet bei Bourg-et-Comin, wo er in den Seitenkanal der l'Aisne einmündet. Wie der Name sagt, verläuft dieser in etwa parallel zum Fluss, ohne allerdings dessen Windungen mitzumachen. Manchmal bietet die etwas erhöhte Lage des Kanals eine gute Sicht in das weite Tal der l'Aisne, die dann eine grosszügige, intensiv genutzte, aber trotzdem noch einigermassen strukturierte Landschaft zeigt.
Bei Berry-au-Bac biegt man über zwei Schleusen nach rechts in den Canal de l'Aisne à la Marne ab. Spätestens jetzt werden die komplizierten Namen verständlich und beweisen, dass sie durchaus Sinn machen. Der Kanal hier führte uns aus dem Tal der l'Aisne ins Tal der Marne. Acht Schleusen, fast jede in Sichtweite zu der vorangehenden, von denen jede uns 3-4m in die Höhe hob, brachten uns schliesslich nach Reims. Hier waren wir vor einigen Jahren schon einmal (siehe Juni 2010) und wir legten sogar an genau der gleichen Stelle an wie damals. Liegeplätze für Schiffe unserer Grösse sind in der Stadt nicht allzu häufig und darum waren wir froh, als dieser Platz tatsächlich noch frei war.
Unsere Durchfahrt durch die erste Schleuse wurde von einem
Schiffenthusiasten gefilmt und auf Youtube hochgeladen. Er hat uns auch
noch rasch seinen Namen und jener seiner Youtube-Gruppe zugerufen, damit
wir sein Werk anschauen könnten. Seine Kameraführung scheint zu
verraten, dass er bei dem Manöver noch etwas nervöser war als wir. Darum
fügen wir hier die beiden Links an, dass jeder der will, sich von
unserem Eindruck überzeugen kann.
(Links jeweils in neuem Tab öffnen!)
Einfahrt Schleuse
Ausfahrt Schleuse
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Monat Juli 2018:
- 65 h
- 55 Schleusen
- 3 Brücken
- 2 Tunnel (1km + 3km)
- 298 km