November 2016

Bis anhin hatten wir, wenn immer es möglich war, vorgezogen, während der kalten Wintermonate irgendwohin zu fliehen, wo es wärmer und - für uns - damit wohnlicher ist. Für diesen Winter jedoch hatten wir entschieden, in Berlin zu bleiben. Beide waren wir zuvor allenfalls während ein paar Tagen hier gewesen und das ist für eine Stadt dieser Grössenordnung wahrlich nicht genug. Frühzeitig hatten wir angefangen, uns nach einer geeigneten Wohnung umzusehen. Im Norden von Berlin-Neukölln sind wir dann fündig geworden. Dort liess sich für unsere Ansprüche eine passende und gleichzeitig preislich erträgliche Lösung finden. Dieses aufstrebende Quartier ist ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen und hat damit grosses Entwicklungspotential. Diese Entwicklung verläuft von Kreuzberg in Richtung Süden und wird so den Charakter dieses Kiez' in den nächsten Jahren verändern.

Berlin hat während Jahrhunderten die Europäische Geschichte geprägt und dabei nebst Glanzpunkten auch unvorstellbare Tiefen erlebt. Spuren all dieser Epochen sind selbst in unserer schnelllebigen Zeit noch überall zu finden und zu spüren. Hält man sich den Zustand dieser Stadt nach 1945 vor Augen, kann man nicht anders, als dem Willen zum Wiederaufbau mit Respekt zu begegnen. Darüber hinaus stellt die Entwicklung nach der Wiedervereinigung eine gewaltige Leistung dar. Deutschland hat sich mit Berlin erneut eine würdige Hauptstadt geschenkt.

Wir wollen uns die Zeit nehmen, in den nächsten Monaten das Leben in dieser Stadt buchstäblich zu erfahren und unter anderem auch Punkte, die wir vom Schiff aus nur kurz gesehen haben, etwas näher betrachten. Zu diesem Zweck haben wir uns umgehend Monatskarten für den gut ausgebauten öffentlichen Verkehr besorgt. Damit sind wir bequem unterwegs mit U-Bahn, S-Bahn aber auch mit den zahlreichen Bussen, die feinmaschig das ganze Stadtgebiet erschliessen.
Damit wir allerdings wegen der Fahrerei nicht allzu bequem werden, haben wir für diese Zeit einen alten Vorsatz realisiert und uns in einem Fitnesscenter angemeldet. So zwei- bis dreimal in der Woche sollte sich doch der gute Vorsatz realisieren lassen.

Unser erster kleiner Ausflug führte in den Treptower-Park, eine grosszügige Grünfläche im Osten der Stadt. Der zentrale Teil des Parks wird vom Sowjetischen Ehrenmal besetzt. Dieses ruft in typisch protziger Manier zum Gedenken an die Soldaten der Russischen Armee auf, die ihr Leben im Kampf gegen den Nationalsozialismus verloren haben. Bei allem Respekt für das Opfer der Soldaten erfriert man förmlich beim Anblick des Denkmals.
Dessen ungeachtet hatte bei unserem Besuch ein sportlicher Berliner seine Slackline so gekonnt quer über den Karpfenteich gespannt, dass sie ihm in der Mitte des Teiches gestattete, genau wie sein berühmtes Vorbild auf dem Wasser zu gehen. Immerhin hat er etwas später für seinen Übermut mit einem kalten Bad gebüsst. Uns hat es, zusammen mit vielen anderen Zuschauern, trotz allem gefallen.

Ganz in der Nähe liegt die Archenhold-Sternwarte, das älteste Observatorium Deutschlands, das von allem Anfang an zur Verbreitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse bei der Bevölkerung erbaut worden war. Es entsprach damit dem Anliegen des 1888 gegründeten Vereins Urania, der auf die Bemühungen von Alexander von Humboldt zurückgeht. Danach sollten jene, welche die wissenschaftlichen Erkenntnisse erarbeiten, diese den Laien auch selber vermitteln. Dazu passt natürlich ganz besonders Einsteins erster öffentlicher Vortrag zu seiner revolutionären Relativitätstheorie am 2. Juni 1915 um 8 Uhr. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass genau einen Tag später am gleichen Ort Gustav Lilienthal über die Bedeutung des Gleitflugs für den Luftkampf referierte.

     

Primär dem Zweck der Volksbildung diente auch das längste voll bewegliche Linsenfernrohr der Welt, das hier zur Eröffnung der Gewerbeausstellung von 1896 aufgestellt wurde. Es ist lediglich die etwas martialisch wirkende Schutzhülle, welche das eigentliche Fernrohr umgibt und dem Instrument die Bezeichnung 'Himmelskanone' eingetragen hat. Sie verbirgt das Fernrohr, das vom Astronomen Friedrich Simon Archenhold entwickelt worden war und das eine Brennweite von 21 m und einen Objektivdurchmessser von 68 cm aufweist.

Beeindruckend ist die äquatoriale Montierung, die ein Gesamtgewicht von 130 Tonnen zu bewegen hat. Der Platz für den Beobachter in der Mitte wirkt dagegen bescheiden, wird aber noch heute für regelmässige Führungen und Demonstrationen benutzt. Die erste echte Volkssternwarte der Geschichte!

  

Da wir damit den Verein Urania kennengelernt hatten, sind wir dort auch auf eine Anzeige gestossen, in der ein Vortrag von Sahra Wagenknecht zu ihrer Sicht der heutigen sozialen Verhältnisse in der Welt angekündet wurde. Beeindruckt vom umfassenden Programm und der Zielsetzung der Institution haben wir uns kurzerhand zu einem Besuch dieses Vortrags entschlossen. Wenn auch unsere Grundeinstellung deutlich von jener der Referentin abweicht, hat sie uns doch durch ihre sehr gekonnt formulierten und klaren Aussagen beeindruckt. Eine sorgfältig recherchierte Ansicht, mit nachvollziehbaren Argumenten, frei von dümmlichen Anwürfen gegenüber Leuten und Parteien mit anderer Meinung: so prägnant möchte man Politiker gerne sprechen hören. Ein gutes Erlebnis!

Der Potsdamerplatz, der nach dem Krieg als Dreiländereck bezeichnet wurde, weil er die Grenzen zwischen dem sowjetischen, amerikanischen und dem britischen Sektor zusammenführte, war während jener Zeit wie leergefegt und stellte so eine grosse innerstädtische Brache dar. Nach dem Mauerbau verlief dieses Monstrum zusätzlich quer über den Platz und verhinderte so jede weitere Entwicklung. Noch heute steht ganz in der Nähe einer der Wachttürme, von denen aus die Volkspolizisten mit geladener Waffe die Grenze der DDR 'schützten'.

Nach der Wende setzte rasch ein ungestümes Wachstum ein und heute gilt der Platz mit seinen aufschiessenden Hochhäusern und dem riesigen Sony-Center als die modernste Gegend der Stadt.

  

Der Bendlerblock wäre an sich schon ein bedeutendes historisches Gebäude der deutschen Militärgeschichte, hatte er doch seit der Weimarer Republik der militärischen Führung ständig als eine der entscheidenden Führungszentralen gedient. Trotzdem war es der 20. Juli 1944, der ihm seine heutige Bedeutung eingetragen hat. Hier im Hof sind an diesem Tag Oberst Claus Graf von Stauffenberg, Generaloberst Ludwig Beck und weitere Beteiligte standrechtlich erschossen worden, nachdem ihr Attentat in der Wolfsschanze gegen Hitler gescheitert war.
In seinem Inneren beherbergt er heute die Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Dort wird in einer eindrücklichen Ausstellung an die Anstrengungen erinnert, mit denen während Jahren Einzelpersonen oder kleinere Gruppen dem Schlimmsten vorzubeugen versuchten, indem sie Hitler ermorden wollten. Mit dabei waren auch erstaunlich viele junge Leute. Es mutet den Besucher beinahe unheimlich an, durch welche lapidaren Zufälle und mit wie viel Glück der Despot sämtliche Angriffe auf sein Leben überstand. Umso grausamer traf dann allerdings seine Rache jeweils die Verantwortlichen.
Trotzdem bleibt das dumpfe Gefühl, dass es offensichtlich nur eine verschwindend kleine Minderheit für nötig gefunden hatte, überhaupt etwas zu unternehmen.

  

Ein etwas ungewöhnlicher Anblick der Gedächtniskirche bot sich uns auf dem Heimweg, wo die Ruinen der alten Kirche und die ergänzenden Neubauten von 1960 sich zu einem stimmungsvollen, fast vorweihnächtlichen Bild zusammen fügten.

Am 9. November besuchten wir respektvoll die Bornholmer Brücke. Dort hob sich, vor genau 27 Jahren, nach den wohl skurrilsten Eskapaden von diensthabenden DDR-Beamten, im richtigen Moment der erste Schlagbaum der innerdeutschen Grenze und gab so den Weg frei für die Leute aus Ost und West. Damit war die Deutsche Demokratische Republik endgültig Geschichte.

  

An einer Ecke des ohnehin schon sehr speziellen Gebäudes der Mexikanischen Botschaft eröffneten sich selbst uns ganz unerwartet ausserirdische Aufstiegsmöglichkeiten.

Wie immer um diese Zeit im Jahr war für Hansruedi der Abstecher in die Schweiz fällig, zum jährlichen Treffen seiner Maturaklasse. Wenn auch diesmal aus verschiedenen Gründen das Grüppchen etwas kleiner war, belebt das regelmässige Abtauchen in die Vergangenheit Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen. Diesmal holten wir bei einem Besuch im neuen Velodrome in Grenchen Appetit für das darauffolgende Nachtessen.
Mit bestem Dank an die Gattin des Organisators, die mit ihrem Taxidienst für eine schnelle Verbindung gesorgt hat! (Dame auf dem Bild)

  

Einen der ganz sonnigen Tage haben wir ausgewählt, das Gaslaternenmuseum im Tiergarten zu besuchen. Man könnte meinen, eine schöne Nacht wäre dafür geeigneter gewesen, aber die Nächte waren schon recht kalt und - was noch viel trauriger ist - die meisten der Gaslaternen, zusammengetragen aus den verschiedensten Städten Europas, waren längst beschädigt, oder - pfui! - schlicht geklaut worden. Viel gemütliches Licht könnten die Laternen darum ohnehin nicht mehr verbreiten.

Eine war sogar von Zürich gekommen, die meisten anderen boten immerhin den Spatzen noch eine sichere Unterkunft.

  

Ein paar Schritte weiter kamen wir zu der Stelle, wo wir bei unserer Fahrt durch den Landwehrkanal für für die Schleusung hatten warten müssen. Wie viel hatten wir doch seit jenen paar Minuten erlebt, denn mit ganz anderen Augen betrachtenden wir jetzt die Szene vom Ufer aus.

Mit einem Spaziergang quer durch den Tiergarten schlossen wir den schönen Nachmittag ab. Erinnerungen zum Festhalten!

Einen Ausflug der besonderen Art machten wir an einem Donnerstagabend zur Markthalle 9 in Kreuzberg. Von den ehemals 14 historischen Markthallen Berlins sind nur noch drei übrig geblieben und diese hier hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Nutzungsänderung erfahren. Mit viel Aufwand und Geschick ist es einer initiativen Gruppe junger Leute gelungen, die Halle vor ihrem Umbau zum Einkaufszentrum zu bewahren und ihre ursprüngliche Nutzung zu erhalten. Neben dem üblichen Markt, etwas bescheidener während der Woche, etwas grösser zum Wochenende, beherbergt sie eine Kantine und ein Café. Am Donnerstag aber organisieren viele Anbieter den Street-Food-Thursday, der immer zahlreiche Besucher anlockt.

Die Marktfahrer haben sich gehobener Qualität und Stimmung verschrieben, entsprechend ist das Angebot und entsprechend ist auch die Kundschaft. Geboten wird viel, etwas für alle fünf Sinne und alle Geschmäcker.

     

Neben all dem hat Matz noch Zeit gefunden, zwei Gruppen von strickbegeisterten Frauen in Berlin auszumachen, die der Ravelry-Community angehören und sich so alle zwei Wochen zum Erfahrungsaustausch treffen. Nebst neuen Ideen für Wolle und Nadel bringt sie von dort immer aktuelles Stadtgeflüster mit. Sie holt sich dabei derart viel Energie, dass sie sich neben einem Kurs für 'Urban Sketching', der dann wohl zu vielen weiteren gefüllten Skizzenblocks führen wird, auch noch zu einem Nähkurs angemeldet hat. Dieser hat nach der kurzen Zeit schon erste Früchte getragen.

Das Deutsche Technikmuseum wird von einem 'Rosinenbomber' geschmückt. Es ist eines jener Flugzeuge, die während der sowjetischen Blockade Berlins 1948-1949 über eine Luftbrücke die Stadt mit dem Nötigsten versorgt hatten.

In seinem Inneren beherbergt das Museum Ausstellungsstücke, welche die grosse Katastrophe im Land überlebt hatten oder von engagierten Sammlern im Ausland aufgespürt und wieder nach Hause gebracht worden waren. Darunter gibt es solche, die bis fast zum Neuzustand wieder renoviert worden sind, andere wurden bewusst so belassen, wie sie zuletzt gearbeitet hatten. Eine Sammlung, die nicht umfassend ist, aber dennoch viele ganz besondere Einzelstücke enthält.

  

Unvermittelt ist Hansruedi während dem Rundgang mit einigem Erstaunen vor einem Ausstellungsstück gestanden, auf genau dem er vor vielen Jahren die Welt aus ungewöhnlichen Perspektiven zu betrachten gelernt hat. Ein Bücker 131, das erste Flugzeug während der fliegerischen Ausbildung beim Militär.
(Während das 'A' der Immatrikulation für 'Ausbildung' steht, bedeutet 'RV' auf dem Seitensteuer 'Rückenvrille', da nicht alle Flugzeuge für dieses Manöver zugelassen waren.)

Eine kurze Suche im Internet brachte uns auf die Adresse eines Wein- und Feinkostladens in Friedrichshagen bei Köpenick. Der lädt regelmässig zu Weinverkostungen ein. Grund genug, mal hinzugehen!
Überdies gehört er Manfred und Linda, die wir im September mit ihrer Hafenbarkasse 'Togo' angetroffen hatten (September 2016). Sie waren überrascht und hatten zunächst etwas Mühe, uns richtig einzuordnen.
Aber es wurde ein feiner Abend.

Wir haben auch feine Leute und feine Weine kennengelernt.

  

Am Abend darauf waren wir bei Isa auf ihrer 'd'n Aal' (Mai 2016) zum Nachtessen eingeladen. So konnten wir gerade eine der neu erworbenen Flaschen mitbringen. Wir haben einen langen Abend bei intensiven Gesprächen verbracht.

 

Auf diese Weise war der erste Monat in Berlin ebenso rasch vergangen wie die Monate auf dem Schiff zuvor. Wir werden uns in kleinen Schritten der Stadt nähern und so wird sie uns bestimmt eins ums andere ihrer Geheimnisse verraten.

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