Juni 2014

Ein geradezu heimisches Gefühl erfasste uns beim Befahren des französischen Teils der Lys (Leie) von Deûlémont bis Aire-sur-la-Lys. Dieser Fluss hatte uns ja schon letztes Jahr auf seinem unteren, belgischen Teilstück von Gent nach Deinze ganz besonders gefallen. Auch hier trafen wir auf ein hübsches Flüsschen mit vielen Windungen, versteckten Dörfchen und guten Anlegestellen. Die Schleusen sind hier leicht grösser als die bekannten französischen Freycinet Masse.

  

Was uns allerdings etwas verwunderte, waren mehrere Begegnungen der unten gezeigten Art: ein erwachsener Mann stellte sich mehr oder weniger verkleidet vor die Handykamera seines Begleiters, spricht wild gestikulierend ein paar Worte und springt dann ins - oft nicht sehr warme - Wasser.

Zwei Mal beobachteten wir das alles eher kopfschüttelnd, dann aber mussten wir nachfragen, was das Ganze sollte. Die Antwort: es handelte sich um eine Art 'Kettenwette', bei der ein Mann verkleidet irgendwo ins Wasser springen muss, zuvor allerdings drei weitere Opfer benennt und sie damit verurteilt, innerhalb von 48 Stunden das Gleiche zu tun. Wer diese Frist verstreichen lässt, muss eine Geldstrafe bezahlen, die angeblich für einen guten Zweck verwendet wird. Damit alles mit rechten Dingen zugeht, wird der ganze Vorgang gefilmt und mittels Youtube ins Netz gestellt. Wie stark der soziale Druck wirkt, konnten wir daran erahnen, dass wir unzählige ähnlich gelagerte Ereignisse beobachteten, die erbarmungslos auch bei recht unfreundlichen Wetterbedingungen stattfanden.

  

Mit dem Verlassen der Lys kamen wir auf die Liaison au Grand Gabarit und damit wieder in den Bereich der grossen Schiffe, bei denen Zeit immer Geld bedeutet. Im Gegensatz zu denen haben wir ja genügend Zeit und tuckerten so gemütlich Richtung Norden gegen Dünkirchen.

Dunkerque touchierten wir allerdings nur am Rand, da wir bei der Einfahrt in die grossen Becken nach rechts in den Canal de Furnes abdrehten. Ansonsten wären wir nach zwei weiteren Schleusen im Salzwasser des Ärmelkanals gelandet. Genau das wollten wir aber vermeiden, da die Anoden, welche die Schale der Mizar vor zu rascher Korrosion schützen, nur für Süsswasser geeignet sind.

Zweihundert Meter weiter drehten wir unter verwirrend vielen Strassenbrücken wiederum nach rechts und fuhren in den Canal de Bergues ein. Unser Ziel war die Stadt Bergues, die nach 2007 wegen des Films 'Bienvenue chez les Ch'tis' von Dany Boon zu unerwarteter Berühmtheit gelangt war. Der Film zeigt auf spassige Art, wohin weit verbreitete Vorurteile führen können, die wir oft, ohne zu hinterfragen, als gegeben annehmen.
Die Stadt lebt noch heute zu einem guten Teil vom Tourismus, der durch diesen Film begründet worden ist.

Nebst den beiden Türmen der ehemaligen Abbaye Saint-Winoc bietet sie aber weitere zahlreiche Sehenswürdigkeiten, die einen Besuch jederzeit rechtfertigen. Auch hier hatte Vauban ein reiches Betätigungsfeld gefunden und die bereits im 9. Jahrhundert angefangenen Befestigungen durch ein ausgeklügeltes System von mehreren Wassergräben, Mauern und Kasematten ergänzt. Immerhin haben seine Bemühungen offenbar die Stadt bei einigen Angriffen geschützt und bieten heute als überdimensionierter Stadtpark zahllose lauschige Flaniermöglichkeiten.

  

Die Stadt selber wird geprägt durch ihren auffälligen kreisförmigen Aufbau, der allerdings erst vom mächtigen Glockenturm aus richtig sichtbar wird. Den ersten Weltkrieg hatte sie noch fast unversehrt überstanden, während dem zweiten Anlauf, rund 25 Jahre später, der grösste Teil der Häuser sowie der Beffroi zum Opfer fielen. Umso erstaunlicher darum, mit wie viel Effort und Feingefühl der Wiederaufbau vorgenommen worden war.
Als kleine Warnung sei angebracht: der Aufstieg zum Turm und insbesondere der Rundgang auf der Aussichtsterrasse sind echt eng geraten.

  

Am fünften Tag fuhren wir mit dem Zug in knapp acht Minuten nach Dünkirchen zurück und schauten uns diese Stadt und deren Strand, der am Anfang des 2. Weltkrieges zu dramatischer Berühmtheit gelangt ist, genauer an. Während die Stadt eher charakterlos wieder aufgebaut worden war, vermittelte das Museum über die Evakuation der britischen und auch französischen Truppen, die von der anstürmenden deutschen Armee eingekesselt worden waren, beklemmende Eindrücke.

Weil wir eigentlich jedoch auf dem Weg zum diesjährigen Treffen der DBA (Dutch Barge Association) waren, fuhren wir am nächsten Tag mit der Mizar erneut nach Dünkirchen, drehten bei den bereits erwähnten Strassenbrücken wieder in den Canal de Furnes ein und fuhren bis Veurne. Damit waren wir zurück in Belgien.

Durch den schmalen, aber landschaftlich ansprechenden Lokanal ging es am nächsten Tag weiter bis zur Schleuse Fintele, wo wir für die Nacht anlegten. Kurz darauf brachte der nette Schleusenwärter, der uns zuvor vergeblich zu einem Besuch in der 14 km entfernten Abtei mit dem besten Bier der Welt hatte überreden wollen, an langer Leine ein Mietboot daher. Darauf befand sich ein Schweizer Ehepaar, das wegen des aufgekommenen starken Windes an seinem ersten Tag auf dem Schiff mit diesem ziemlich auf Kriegsfuss stand. Mit vereinten Kräften war das Boot nach kurzer Zeit aber sicher längsseits von uns vertäut.

   

Nur Minuten später kamen auf der Ijzer unsere Schleusenschifferclub-Freunde Lucy und Peti  mit ihrem Schiff 'La Vie' daher, sodass der Anlegeplatz für diesen Abend fest in Schweizer Hand war.
Am Morgen verabschiedeten wir uns von der fröhlichen Schar und fuhren ebenfalls auf der Ijzer nach Diksmuide

Pünktlich, wie es sich für Schweizer gehört, erschienen wir dort zum Treffen, das von der DBA anlässlich der 100-Jahrfeiern zum Ausbruch des 1. Weltkrieges organisiert worden war.
Innert eines Tages versammelten sich im Hafen von Diksmuide 21 Schiffe, historische und Neubauten, aber alle, dem Anlass entsprechend, reich beflaggt. Alle waren gekommen, Erfahrungen auszutauschen und die Kameradschaft zu pflegen, aber auch um mehr über die Ereignisse zu erfahren, die vor 100 Jahren hier das Gesicht Europas für immer verändert hatten.

  

Während des 1. Weltkrieges gelang es bei Diksmuide der belgischen Armee und beim nahe gelegene Ypern vor allem britischen Truppen aus dem ganzen damaligen Empire, in einem äusserst grausamen und langwierigen Grabenkampf den Vorstoss der deutschen Truppen zu stoppen. Der Preis dafür war jedoch fürchterlich. Mehrere hunderttausend Menschen fielen allein in den Feldern von Flandern, mehr als zehn Millionen im ganzen Krieg.
Eindrückliche Gedenkstätten an beiden Orten erinnern heute an das Geschehen, das bei diesem Krieg die Wende eingeleitet hatte.

Der Ijzer Turm und das Friedenstor in Diksmuide wurden zum Andenken an die Flämischen Soldaten erbaut, welche unter grässlichen Umständen hier ihr Leben verloren hatten. Ironie der Geschichte ist allerdings, dass die heutige Anlage erst 1965 erbaut wurde, nachdem das ursprüngliche Denkmal 1946 gesprengt worden war. Den flämischen Toten wurde im ersten Weltkrieg zunächst von offizieller Seite ein Grabstein gesetzt, der in französischer Sprache beschriftet worden und so für viele Angehörige gar nicht lesbar war. Auf diese Provokation reagierend, schufen die Flamen für ihre Gefallenen neue Grabsteine mit keltischen Grundzügen und der Inschrift AVV-VVK (Alles für Flandern - Flandern für Christus). Eigenen nationalistischen Ideen folgend, standen darum etliche Flamen im 2. Weltkrieg dann auf der falschen Seite. Aus Rache dafür wurde nach dem Krieg die alte Gedenkstätte zerstört und die scheinbar anstössigen Grabsteine als Strassenbelag verwendet.
Das neue Denkmal, teilweise erbaut aus den Steinen des alten und ausschliesslich finanziert mit Mitteln von privaten Spendern, steht nun wieder ganz unter der Devise AVV-VVK. Dies ist Ausdruck der Schwerpunktsverschiebung von Wallonien nach Flandern, die in der Zwischenzeit in Belgien stattgefunden hat.

So wirkt der Grabenkrieg von damals als fernes Echo immer noch nach.
Der Wahnsinn des Krieges, eindrücklich beschrieben durch Bobbejaan Schoepen in seinem Lied
Een koude Wind
so, dass es jeden Zuhörer friert.


Immerhin steht, was damals alle hätten lernen müssen, heute in grossen Lettern und in vier Sprachen auf der Mauer des Ijzer Turms:

NOOIT MEER OORLOG
(Nie wieder Krieg)

  

Vom Turm aus hatten wir eine tolle Aussicht auf die Felder von Flandern aber
auch auf die versammelten Schiffe der DBA.

Ein ganz besonderes Erinnerungsstück ist der Totengang, ein Nachbau der alten Schützengräben, in denen die Verteidiger sich einem deutschen Bunker zu nähern versuchten, von dem aus sie immer schweren Beschuss zu erdulden hatten. Die Anlage hatte schon während des Krieges diesen Namen getragen und ihr letzter Abschnitt wurde von den Soldaten 'Mausefalle' genannt.

Dass die heutige Ansicht, trotz des immer noch reichlich blühenden Mohns, eine krasse Untertreibung der Realität darstellt, belegen die beiden ausgestellten zeitgenössischen Bilder aufs Deutlichste.

  

Das Gedicht von Mayor John McCrae, geschrieben1915 in dieser Umgebung, verbindet die Eindrücke von heute und von damals vortrefflich:

In Flanders Fields

In Flanders fields the poppies blow
Between the crosses, row on row,
That mark our place; and in the sky
The larks, still bravely singing, fly
Scarce heard amid the guns below.

We are the dead. Short days ago
We lived, felt dawn, saw sunset glow,
Loved, and were loved, and now we lie
In Flanders fields.

Take up our quarrel with the foe:
To you from failing hands we throw
The torch; be yours to hold it high.
If ye break faith with us who die
We shall not sleep, though poppies grow
In Flanders fields.

Auf Flanderns Feldern

Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn
zwischen den Kreuzen, die, Reihe um Reihe,
unseren Platz markieren. Am Himmel
fliegen die Lerchen, die,  noch immer tapfer singend,
unten zwischen den Kanonen kaum gehört werden.

Wir sind die Toten. Vor wenigen Tagen noch lebten wir,
fühlten den Morgen und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang.

Wir liebten und wurden geliebt, und nun liegen wir
auf Flanderns Feldern.

Führt unseren Kampf mit dem Feind weiter.
Mit fallender Hand werfen wir Euch
die Fackel zu. Es ist an Euch, sie hoch zu halten.
Brecht Ihr den Bund mit uns, die wir sterben,
werden wir nicht schlafen, obgleich der Mohn wächst
auf Flanderns Feldern.

Ypern (Ieper, Ypres) ging in die Geschichte ein, weil hier zum ersten Mal in grossem Massstab Chlorgas und später Senfgas (Yperit) eingesetzt worden war. Im Menin Tor sind Tausende von Namen Gefallener eingraviert und jeden Abend findet der Last Post statt, ein eindrücklicher Zapfenstreich für die Opfer. Jeden Tag zieht dieser Anlass mehrere hundert oder gar tausende Zuschauer in seinen Bann.

Oft wird vergessen, dass auf beiden Seiten der Front Opfer zu beklagen waren. Meist junge Leute, die kaum je Gelegenheit gehabt hatten, sich eine eigene Meinung zu bilden. In Vladslo liegt ein schlichter deutscher Soldatenfriedhof mit 26'000 Gräbern, der seine Bekanntheit einer berühmten Skulptur verdankt, welche von Käthe Kollwitz geschaffen worden war und ein trauerndes Elternpaar darstellt. Einer ihrer eigenen Söhne liegt hier begraben.

  

Zu unserem Glück half uns in den nächsten Tagen der tiefblaue Himmel, rasch alle die düsteren Gedanken zu vertreiben. Nach dem Rally fuhren wir auf der Ijzer weiter nach Niewpoort. Von dort führte uns ein Tram der bekannten Bade-Küste entlang nach Oostende. Es spricht für die Attraktivität dieser Küste, dass sie beinahe auf ihrer ganzen Länge durch hässliche Bausünden aller Epochen verstellt worden ist, die den schönen Strand gründlich vom belebten Hinterland abschirmen.
Mit zeitgenössischer Kunst versucht Oostende, den Häuserblocks das Beleidigende für unsere Augen zu nehmen.
Der fast 50 km lange Sandstrand erreicht das allerdings ohne jede künstliche Hilfe.

  

Auf der nächsten Strecke müssen mehrere Brücken für den Schiffsverkehr jeweils geöffnet werden. Wir fuhren darum in einem Konvoi von sechs Schiffen von Nieuwpoort nach Oostende. Wie es so nahe der Meeresküste kaum anders zu erwarten war, blies vom Meer her ein kräftiger Wind. Matz hatte darum schon bei der Anfahrt an die erste von mehreren Zugbrücken wegen dem Seitenwind alle Hände voll zu tun.

Je flacher das Land wird, desto weniger Schleusen trifft man. Dafür umso mehr Brücken. Diese sind manchmal so hoch gebaut, dass die Schiffe darunter durchfahren können. Sind sie das nicht, werden sie entweder gedreht oder, wie im Mittelalter, hochgezogen. Kurz vor Brügge trafen wir auf dieses Modell, das nach unserer bisherigen Erfahrung einzigartig ist. Beeindruckend.

Nach Brügge kamen wir mit recht hohen Erwartungen. Die Meinungen zu dieser Stadt sind widersprüchlich: entweder man liebt sie, oder - eher weniger.
Bei der Ankunft hatten wir Glück: der Kapitän eines Hotelschiffs hat uns spontan eingeladen, bei ihm längsseits zu gehen. Selbst als er weggefahren war, blieben wir an seinem Platz und waren so mehr oder weniger legal dort. Auf jeden Fall ideal!
Zu Fuss brauchten wir bloss ein paar Minuten quer durch gepflegte Parkanlagen bis ins Zentrum der Stadt. Schon auf den ersten Blick erkennt man, dass hier einstmals üppiger Reichtum vorhanden war. Als Tuchmetropole, damals mit direktem Meeranschluss (bis dieser im Lauf der Zeit versandete), wurde Brügge auch Hansestadt und hatte damit Zugang zur ganzen Welt und ihrem Reichtümern. Entsprechend reichhaltig und vielfältig präsentiert sich das Stadtbild.
Wir fühlten uns fast in eine Märchenwelt versetzt und erahnten, wo Walt Disney viele seiner Ideen geholt haben musste.

  

     

Wenn nur, ja, wenn nur die Touristen nicht wären (klar, wir sind ja auch welche!). Jeden Morgen parkten viele Dutzende riesiger Reisecars ganz nahe bei unserer Anlegestelle. Von dort ergoss sich dann ein nicht abbrechender Strom von Leuten aus aller Welt in die Stadt. Diese besuchten dort vor allem die unzähligen Schokoladeläden, Bierhandlungen, Antiquitätenmärkte, Restaurants und ab und zu eine Kirche. Dazwischen standen sie lange Schlange, bis die Reihe für eine kleine Bootsrundfahrt durch die Stadt an ihnen war. Meist winkte danach irgend ein in die Höhe gestreckter Regenschirm zur eiligen Rückkehr zum Bus.

  

Leider drückte dieser tägliche Ablauf etwas auf unsere Musse und Aufnahmefähigkeit beim Besuch der Stadt. Nach drei Tagen fuhren wir darum auf dem Kanal van Gent naar Oostende weiter, verbrachten eine Nacht am Wartesteiger der Schleuse von Schipdonk und erreichten kurz vor Monatsende wiederum die Stadt Gent, wo wir im Portus Ganda erneut einen komfortablen Anlegeplatz fanden.

Im Juli des letzten Jahres waren wir schon fast zwei Wochen in Gent, genau während der Genter Festen. Die Stadt war damals eine einzige Festhütte. Trotzdem hatte sie uns sehr gut gefallen.

Auch ohne jeden besonderen Anlass war die Stadt auch diesmal voller Leben. Vor prächtiger Kulisse flanierten zahllose Leute, füllten die unzähligen Strassenbeizen und schufen so richtige Ferienstimmung. Eine Stadt, die bei uns uneingeschränkte Begeisterung auslöste.

 

 Ein Monat mit vielen Eindrücken, die unterschiedlicher kaum hätten sein können, mit zahlreichen geselligen und zum Nachdenken anregenden Erlebnissen, ging damit zu Ende.
Mit der schlichten Erkenntnis, dass es uns heute sehr gut geht!

Monat Juni '14:
- 40 h 50'
- 11 Schleusen
- 33 bewegliche Brücken
- 231 km

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